Sonntag, 21. März 2010

Eigene Gedanken

4. Januar 2010
Ehemalige Heimkinder planen Demo: "Wir wollen uns nicht länger veralbern lassen"

15. April: Der vom Bundestag eingesetzte Runde Tisch trifft sich zur siebten Sitzung, 21 Vertreter der Bundesländer, Kirchen, Sozialeinrichtungen und ehemalige Heimkinder beschäftigen sich erneut mit der Heimerziehung in den 50er, 60er und 70er Jahren. Den Vorsitz führt Antje Vollmer, Politikerin der Grünen und von 1994 bis 2005 Bundestagsvizepräsidentin. Ende 2009 hat die 66-Jährige Zwischenbilanz gezogen. Sie lobte das „Wir-Gefühl“ am Runden Tisch, alle seien „wie auf Zehenspitzen“ in die Gespräche gegangen.


Das änderte sich vorübergehend, als der Verein ehemaliger Heimkinder im Frühjahr vorigen Jahres seine Führung komplett auswechselte, Anwälte forderten einen Entschädigungsfonds in Höhe von 25 Milliarden Euro. Antje Vollmer aber ließ die neuen Vertreter der Heimkinder nicht zu. Auch die Anwälte durften am Runden Tisch nicht Platz nehmen.

„Die Zeit des Stillhaltens ist vorbei“, heißt es jetzt in einer Demo-Ankündigung, die vom Verein ehemaliger Heimkinder unterstützt wird. Deshalb werde man am 15. April auf die Berliner Straßen gehen: „Wir lassen uns nicht länger veralbern.“ Gefordert werden sollen bei dieser Demonstration Entschuldigungen, Entschädigungen, Schmerzensgeld, auch die Kosten für medizinische und psychologische Behandlungen sollen übernommen werden.

Der evangelischen und der katholischen Kirche, staatlichen Trägern von Kinderheimen und den Aufsichtsbehörden werden in dieser Pressemitteilung schwere Vorwürfe gemacht: „Wir klagen an, weil wir geschlagen wurden, weil wir zwangsgefüttert wurden, weil wir sexuell missbraucht wurden, weil wir gefoltert wurden.“ Heimkinder seien in den 50er, 60er und 70er Jahren in dunklen Kellern eingesperrt worden.

Forscher der Ruhr-Universität schätzen die Zahl der Betroffenen auf 500 000. Nicht alle ziehen am gleichen Strang. Viele ehemalige Heimkinder wollen mit ihrer Vergangenheit nicht mehr konfrontiert werden, sie sagen: „Was man uns angetan hat, kann niemand wieder gut machen.“ Andere meinen, dass der Runde Tisch zu langsam arbeite.

Dagegen wehrt sich Antje Vollmer Sorgfalt gehe vor Schnelligkeit. Ein Jahr dauert inzwischen die Aufarbeitung, immer mehr tritt zutage. Heimkinder, die über Misshandlungen, Missbrauch und Demütigungen auch noch in den 80er Jahren berichten, kommen gar nicht zu Wort. Das gehöre nicht zum Auftrag des Runden Tisches, sagt Antje Vollmer, außerdem habe man schon jetzt die Grenze der Belastbarkeit erreicht.

5. Oktober 2009
Hannover: Gesprächskreis beschließt Forschungsauftrag

Schläge, Demütigungen und perverse Strafen - unzählige Kinder haben in der Nachkriegszeit in kirchlichen und staatlichen Heimen bis an die Grenze des Erträglichen gelitten. Damit beschäftigt sich nicht nur ein Runder Tisch des Deutschen Bundestages, damit beschäftigt sich auch ein Gesprächsarbeitskreis „Heimerziehung 1945 bis 1975“ im niedersächsischen Sozialministerium. Heute hat es erneut im Ministerium ein Treffen ehemaliger Heimkinder, der kommunalen Spitzenverbände, der Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege, des Caritasverbandes Osnabrück, des Diakonischen Werkes, des Landesarchivs und des Landessozialamtes gegeben.

„Alle Betroffenen benötigen Einsicht in noch vorhandene Akten der staatlichen und freien Heimträger, um ihre ganz persönlichen Heimbiographien aufarbeiten zu können“, sagte Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann. Niedersachsen sei bei der Aktensicherung staatlicher Einrichtungen weiter als andere Bundesländer. So habe das Landesarchiv alle sieben Staatsarchive eingeschaltet, außerdem gebe es Vorermittlungen in allen 79 Amtsgerichten des Landes. Das Justizministerium verhindere die Vernichtung von noch vorhandenen Akten.

Der Präsident des Niedersächsischen Landesarchivs, Dr. Bernd Kappelhoff, berichtete in der heutigen Sitzung über die Zusammenführung der Aktenbestände aus den ehemaligen Bezirksregierungen und Landesjugendämtern mit den Beständen der vormundschaftsgerichtlichen Akten. Sie sei nahezu abgeschlossen. Den Betroffenen werde ein unbürokratischer Zugang zu ihren Akten ermöglicht.

Der Gesprächsarbeitskreis verabschiedete einen Forschungsauftrag, die Themen: die damaligen Trägerstrukturen, die Einrichtungen in jener Zeit, Unterbringung und Aufsicht, Beschwerden und besondere Vorkommnisse, die Verantwortung des Landes für die Fürsorgeerziehung, die Entwicklung der Heimaufsicht und des Landesjugendheims Göttingen, Entscheidungen der Gerichte und das Verhalten staatlicher Stellen unterhalb der Landesebene.

Für Fragen zum Rentenversicherungsrecht und zu Entschädigungen dagegen ist der Runde Tisch des Deutschen Bundestages zuständig. Anfang nächsten Jahres soll ein Zwischenbericht vorgelegt werden.

Das Schicksal vieler ehemaliger Heimkinder jedoch werden weder der Gesprächsarbeitskreis im niedersächsischen Sozialministerium noch der Runde Tisch des Deutschen Bundestages aufklären können. Groß ist die Zahl derjenigen, die sagen: „Was uns damals angetan worden ist, kann niemand mehr gut machen.“ Allzu oft hätten sie erlebt, dass ihre Schilderungen mit dem Hinweis abgetan worden seien: „Das bilden Sie sich alles nur ein.“

Auch in Holzen bei Holzminden hat es ein Kinderheim gegeben. Was dort geschah, verschlug mir bei den Recherchen fast die Sprache. Leserinnen und Leser meiner Broschüre „Zwei Fälle für Kommissar Internet: Holzen und Dalheim“ wird es wohl nicht anders ergehen. Lokalzeitungen haben bis heute diese Broschüre mit keinem Wort erwähnt.

Bleibt die Frage: Wie rückhaltlos wird die Aufklärung?

18. Juni 2009
Niedersächsische Sozialministerin hört erschütternde Berichte

Hannover (tj). Im Herbst vorigen Jahres hat das niedersächsische Sozialministerium eine Hotline für ehemalige Heimkinder geschaltet, über 100 Betroffene riefen an oder schrieben Briefe, schilderten ihre Erfahrungen. Die waren erschütternd. Das sagte Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann vor dem Landtag in Hannover. Das Parlament beschäftigte sich in zweiter Beratung mit diesem Thema.

Die Ministerin wies darauf hin, dass die Anruferinnen und Anrufer über „Demütigungen und Gewalt“ berichtet hätten, und fügte hinzu: „Viele haben versucht, die traumatischen Erlebnisse zu verdrängen. Als gut und entlastend wurde empfunden, dass endlich über dieses Leid öffentlich gesprochen wird.“

Die Betroffenen hätten aber nicht nur von ihren Erlebnissen erzählt, sie hätten auch Forderungen gestellt. Akteneinsicht gehöre dazu, Entschädigungen, Nachzahlungen in die Rentenkasse und die historische Aufarbeitung. Zur Akteneinsicht sagte Mechthild Ross-Luttmann: „Alle betroffenen Institutionen in Niedersachsen werden dem nachkommen.“

In diesem Zusammenhang erwähnte die Ministerin ein Fachgespräch, das sie am 8. Juni mit den beiden großen christlichen Kirchen, Behörden, Gerichten und Kommunen geführt habe. Ein weiteres Ergebnis dieses Treffens: „Die großen diakonischen Einrichtungen zum Beispiel stellen sich mit dem Angebot psychologischer, sozialer und seelsorgerischer Beratung ihrer Verantwortung für das Schicksal ehemaliger Heimkinder.“

Für andere Probleme könne nur eine bundesweite Lösung angestrebt werden. Die Ministerin abschließend: „Vor Ort aber, hier in Niedersachsen, müssen wir das machen, was den Betroffenen konkret hilft. Und dazu treffen wir uns mit den Beteiligten seit längerem. Diesen von mir begonnenen Dialog werde ich fortsetzen."

17. März 2009
Runder Tisch und ehemalige Heimkinder: Zeitfenster wird 1979 geschlossen

Dr. Antje Vollmer, von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen, seit 4. Dezember 2008 Moderatorin des Runden Tisches, der sich auf Beschluss des Deutschen Bundestages mit dem Schicksal ehemaliger Heimkinder in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren beschäftigt, darf das Zeitfenster nicht weiter öffnen als vom Petitionsausschuss gewollt. Die Folge: Viele ehemalige Heimkinder werden nicht gesehen. Eigentlich aber müsste der Runde Tisch auch den Blick richten auf Misshandlungen in den 1980er-Jahren. Wird aber nicht geschehen. Das Motto lautet: Ab 1980 Augen zu!

Der nächste Skandal beginnt. Die 65-Jährige nimmt ihn zur Kenntnis, sie schreibt an den Wilhelmshavener Redakteur Heinz-Peter Tjaden, der sich seit über einem Jahr mit diesem Thema beschäftigt: „Ihre Anregung, das Thema des Runden Tisches auszuweiten (auf die Zeit der 80er Jahre) ist sehr verständlich und wichtig.“ Klingt erst einmal gut. Aber dann fügt Antje Vollmer hinzu: „Nur leider ist das Thema vom Petitionsausschuss so vorgegeben worden.“ Heißt: Das Zeitfenster wird 1950 geöffnet und 1979 geschlossen.

Ausgeblendete Themen sind also auch ein Kinderheim in Diemerstein (Landkreis Kaiserslautern) und ein Internat, das es bis 1987 im Schloss Eringerfeld gegeben hat. Michael Jäger, Schauspieler, Moderator und Autor aus München, ist dort gewesen. Er berichtet: „Im Heim bin ich körperlich misshandelt worden, im Internat wurde ich sexuell missbraucht.“ Diese Erlebnisse hat der 42-Jährige nicht verdaut: „Ich habe immer noch damit zu kämpfen, was man mir angetan hat.“ Nachlesen kann man das im Internet.

Für Michael Jäger kommt es am Runden Tisch so, wie er es erwartet hat. Seine Leidensgenossen und er werden vermutlich ebenfalls Jahrzehnte warten müssen, bis jemand öffentlich ihre Schicksale aufarbeitet.

Antje Vollmer bittet dafür um Verständnis, denn: „Schon jetzt erreicht uns eine solche Flut von Zuschriften und Anregungen, dass wir ein weiter gestecktes Thema nicht bewältigen könnten.“

20. Februar 2009
Ab ins Heim und dann zur Pornoindustrie?

Mit den schlimmen Zuständen, die es in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren in vielen Kinderheimen gegeben hat, beschäftigt sich zurzeit ein Runder Tisch unter Vorsitz von Antje Vollmer. Eingesetzt worden ist er vom Deutschen Bundestag. Warum mit der Aufarbeitung der Heimgeschichte so lange gewartet wurde, ist ein Rätsel, denn was in einigen Heimen los war, wusste die Öffentlichkeit auch schon vor 40 Jahren. Viele hörten allerdings einfach nicht zu, taub stellten sich auch die Kirchen als Trägerinnen solcher Einrichtungen. Nicht einmal ein Roman, der vor 30 Jahren verfilmt wurde, änderte daran etwas.

Auch heute sind wieder Vorwürfe an Jugendämter, Familiengerichte und Kinderheime an der Tagesordnung. Wer darüber schreibt, muss aufpassen. Die Behörden verweigern meistens jede Mitarbeit bei Recherchen, die Betroffenen stellen oft genug Vermutungen an, die einer Überprüfung nicht standhalten. Darunter leiden alle, die wirklich Schlimmes erleben.

Ein Beispiel für Geschichten, die aktuell im Internet kursieren, sieht so aus (mail-Betreff "Heime und Porno": Kinderheime arbeiten mit der Pornoindustrie zusammen. So soll es eine Mutter geben, deren Töchter in einem Heim leben. Eines Tages trifft sie Bekannte, die ihr mitteilen: „Wir haben Nacktfotos von deinen Töchtern im Netz gefunden.“ Das erzählt sie einem Dritten, der mit Recherchen beginnen will.

Das soll wahr sein? Wenn dem so wäre, warum hat sich dann diese Mutter bei ihren Bekannten nicht sofort erkundigt, wo diese Bilder im Internet versteckt sind? Und warum ist sie nicht anschließend zur Polizei gegangen? Welche Mutter würde das nicht tun?

15. Januar 2009
Was hat "Röschen" Albrecht da Ursula von der Leyen eingebrockt?

Mitglieder des Petitionsausschusses kritisieren die Bundesfamilienministerin, ehemalige Heimkinder fordern im Internet den Rücktritt von Ursula von der Leyen. Die 50-Jährige hat sich mit ihren Äußerungen zu den Themen „Runder Tisch“ und „Misshandlungen in kirchlichen und staatlichen Kinderheimen“ gehörig in die sozialpolitischen Nesseln gesetzt.

Doch das ist nicht weiter verwunderlich, denn Politik hat „Röschen“ Albrecht schon als Kind unter dem Schreibtisch ihres Vaters spielend gelernt. Dann wurde aus dem „Röschen“ eine Rose - und die sind bekanntlich stachelig.

Wie aus dem Nichts tauchte Ursula von der Leyen aus einem Dorf in der Region Hannover auf, eroberte als Landtagskandidatin der CDU mühelos ihren Wahlkreis, machte Landespolitik und schnell Bundespolitik. Dabei hatte sie den Blick fast schon starr gerichtet auf: die Mittel- und Oberschicht.

Die da unten sah sie nur selten. In dieser Hinsicht glich sie öffentlich eher ihrem Vater als ihrer Mutter, die ohne viel Aufhebens soziale Einrichtungen unterstützte, geduldig an der Supermarktkasse in Burgdorf bei Hannover stand und sich nach dem Einkauf um MS-Kranke kümmerte.

Ob die Bundesfamilienministerin gestern in Burgdorf vor dem Fernseher gesessen und die Sendung „Menschen und Schlagzeilen“ gesehen hat, ist fraglich. Denn Schlagzeilen machte im NDR-Fernsehen nicht sie, sondern die evangelische Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, die um schlimme Zustände in kirchlichen Heimen in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren nicht herumredete. Sie schäme sich dafür, sagte die Landesbischöfin, und: „Kinder wurden wirklich auch gebrochen.“

Doch derart gebrochen sind nicht alle ehemaligen Heimkinder, dass sie sich nicht wehren können, wenn Ursula von der Leyen die Aufarbeitung der Kinderheim-Geschichte torpedieren will, bevor sie begonnen hat. Aber vielleicht läuft es ja bei ihr wie bei der CDU heute bei den Stasi-Akten. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich erfreut darüber, dass diese Akten nicht vernichtet worden sind. Genau das aber hatten Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble dermaleinst vor…

12. Januar 2009
Wie eiskalt ist Ursula von der Leyen?

Wie eiskalt ist die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen? Diese Fragen muss die 50-Jährige überhört haben: „Warum hat man mir das angetan? Warum wurde ich 17 Jahre lang eingesperrt?“ Gestellt wurden sie am 4. Dezember 2008 von einem ehemaligen Heimkind während einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages. Bundestagspräsident Norbert Lammert teilte bei dieser Gelegenheit mit, dass ein Runder Tisch gebildet werde, bei der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Dr. Antje Vollmer sollten alle Fäden zusammenlaufen. Dazu sagte Lammert: „Das ist eine schwierige Aufgabe.“

Dass sie noch schwerer wird als gedacht, dafür sorgt jetzt die Bundesfamilienministerin. In einem Brief an Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) soll sie laut „taz“ geschrieben haben: „Die Einrichtung eines nationalen Entschädigungsfonds wird von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt.“ Vorher verlautete bereits aus dem Ministerium, dass der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge die Organisation des Runden Tisches übernehme.

Dagegen protestierte sogleich der Verein ehemalige Heimkinder in einer Presseerklärung vom 9. Januar 2009, denn: „Der
deutsche Verein war in besonderer Weise verstrickt in die pädagogische Theorie und Praxis der Heimerziehung des Nationalsozialismus sowie der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Erst in den 90er Jahren wurde bekannt, dass sein jahrzehntelang hoch in Ehren gehaltener ehemaliger
Vorsitzender, Herr Muthesius, im Dritten Reich als Referent für die zentrale Verwaltung der Jugendkonzentrationslager in Moringen, der Uckermark sowie in Litzmannstadt zuständig war.“

Sie wolle den Betroffenen „mit offenen Ohren“ zuhören, hat Antje Vollmer am 15. Dezember 2008 dem Wilhelmshavener Redakteur Heinz-Peter Tjaden versichert. Der 59-Jährige beschäftigt sich seit über einem Jahr mit dem Schicksal ehemaliger Heimkinder, die in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren in Heimen gequält, misshandelt und ausgebeutet worden sind. Weiter schrieb die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin an Tjaden: „Die Arbeit des Runden Tisches wird beginnen, sobald alle Institutionen, die daran teilnehmen werden, ihre Vertreter benannt haben. Ich hoffe, dass das recht früh im Jahre 2009 möglich sein wird.“

Darauf warten ehemalige Heimkinder schon seit Jahren. Mit dem Störfeuer aus dem Bundesfamilienministerium wird diese Wartezeit weiter verlängert.

Samstag, 20. März 2010

Pestalozzistiftung Burgwedel

16. März 2010
Angst als ständiger Begleiter

"Wir sind eine rechtsfähige Stiftung bürgerlichen Rechts und eine kirchliche Stiftung und Mitglied im Diakonischen Werk. Seit 1846 sind wir in der Region Hannover tätig.

Wir bieten soziale Dienstleistungen in der Jugend- und Behindertenhilfe an und sind Träger von allgemein- und berufsbildenden Schulen.

Wir sehen unsere Aufgabe darin, kleine und große Menschen selbstständiger und selbstbewusster zu machen. Unsere Angebote gelten auch schwachen und schwierigen Menschen." So stellt sich die Pestalozzistiftung aus Burgwedel im Internet vor.

"Ich habe mir manchmal vorgenommen, nicht weiter zu leben", sagt Michael B. Er hat die Jahre 1978 bis 1982 in einem Heim der Burgwedeler Pestalozzistiftung verbracht. Immer in Angst, erzählt der 43-Jährige. Denn: "Der Heimleiter war fast zwei Meter groß und hatte Hände wie Schaufeln." Hände für Prügel. Die Michael B. nach seinen Angaben oft bekommen hat.

Der 43-Jährige: "Doch die ertrug ich als Kind und als Jugendlicher. Weil ich noch mehr Angst vor sexuellem Missbrauch hatte." Immer wieder habe ihm der Heimleiter nachgestellt. Dann sei er geflohen, erst nachts zurückgekehrt: "So konnte ich mich dem entziehen, ich bekam  dann natürlich wieder Schläge."

Diese Erinnerungen nagen an dem ehemaligen Heimkind: "Es ist ein Wechselbad der Gefühle, das mich viel Kraft kostet." Die hole er sich bei einer ambulanten Behandlung zurück. Michael B. war in drei Heimen. Überall habe er Gewalt erlebt: "Nach meiner Entlassung habe ich einen Selbstmordversuch unternommen."

Burgwedel ist eine Bilderbuchstadt bei Hannover, 22 000 Einwohnerinnen und Einwohner, viele betucht, sieben Ortschaften - und ebenfalls Schauplatz von Misshandlungen, mit denen sich seit über einem Jahr ein Runder Tisch des Deutschen Bundestages unter Vorsitz von Antje Vollmer beschäftigt, der die Geschichte der Kinderheime in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren aufarbeitet - und nach Auskunft der Vorsitzenden von so viel Leid erfährt, dass gelegentlich die Möglichkeiten dieses Gremiums erschöpft sind?

Darauf gibt es bislang keine Antwort. Die Pestalozzistiftung hüllt sich in Schweigen.

19. März 2010
Ausführliche Antwort

Heute hat mir die Pestalozzistiftung geantwortet. Bericht folgt.
















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Pestalozzi-Stiftung II

20. März 2010
Offener Umgang mit der Vergangenheit

"Wir sind überzeugt, dass wir heute eine nicht nur öffentlich anerkannte und professionelle  Jugendhilfe bieten, sondern auch eine ganze Menge vorbildlich machen", sagt Pastor Andreas Seifert, seit Sommer 1984 Vorstand der Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel und in drei Monaten im Ruhestand. Auf diese Arbeit dürfe kein "schiefes Licht" fallen, deshalb müsse mit der Vergangenheit offen umgegangen werden.

Zu dieser Vergangenheit gehören die in diesem blog geschilderten Erfahrungen von Michael B., der von 1978 bis 1982 im Wichernhaus der Pestalozzi-Stiftung gelebt hat, von Schlägen berichtet und von sexuellen Annäherungsversuchen des damaligen Heimleiters. Andreas Seifert erinnert sich: "Diesen Heimleiter habe ich noch kennengelernt und dann bald wegen verschiedener Verfehlungen  entlassen." Bei diesen Verfehlungen sei es allerdings nicht um versuchten sexuellen Missbrauch gegangen. Vielmehr habe der damalige Heimleiter mit den Jugendlichen aus seiner Gruppe unter einer Decke gesteckt, die Polizei fand in seinem Zimmer Diebesgut.

Um die 30 Ehemalige haben sich Andreas Seifert zufolge in den vergangenen beiden Jahren bei der Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel gemeldet: "Den meisten lag nur an der Akteneinsicht." Sechs Ehemalige hätten Vorwürfe erhoben, Michael B. sei der Siebte. "Darüber hinaus haben wir von drei ehemaligen Mitarbeiterinnen Berichte mit Vorwürfen erhalten, die die Berichte der ehemaligen Kinder und Jugendlichen übertreffen", so Andreas Seifert, der hinzufügt: "Alle Vorwürfe beziehen sich auf Schläge und Strafen und auf erniedrigende und entwürdigende pädagogische Maßnahmen."

Dennoch wolle er keine Zweifel an den Schilderungen von Michael B. anmelden: "Was er berichtet, haben wir mit Betroffenheit zur Kenntnis genommen. Es gibt keine Veranlassung, diese Aussagen zu bestreiten oder zu relativieren."

Das tue man auch bei den gegenwärtigen Untersuchungen des Diakonischen Werkes zur Geschichte der Heimerziehung von 1945 bis 1978 nicht: "In diesen Tagen wird ein Zwischenbericht vorgelegt. Weil wir über ein gutes Archiv verfügen, werden viele negative Beispiele aus unserer Stiftung erwähnt sein."

Keinesfalls als Kompliment wertet Andreas Seifert diese Feststellung eines Ehemaligen: "Ich war in drei Heimen. Bei Ihnen zuerst. Da war es noch am wenigstens schlimm." Und für Michael B. gelte: "Wir würden uns freuen, von ihm noch direkt zu hören."