Montag, 5. Januar 2015

Ans Bett gefesselt

3. September 2010
Teure Medikamente gegen die Angst

Halbnackt ans Bett gefesselt, morgens kalte Duschen, Schulweg auf der anderen Straßenseite, eine Betreuerin, die ihm ihre Blinddarmnarbe zeigt: Jörg W. aus der Region Hannover berichtet über Schlimmes aus einem Schülerheim der Burgwedeler Pestalozzistiftung. Als 12-Jähriger ist er in dieses Heim gekommen. Das war im August 1955. Geblieben ist Angst. Die er mit Medikamenten bekämpft. Die sind teuer.

"Wenn die Einrichtung doch wenigstens von sich aus sagen würde, dass sie sich an den Kosten für meine Medizin beteiligt", sagt der 67-Jährige. Dann wäre er kein Bittsteller. Der sich vorerst mit Entschuldigungen und mit einer Einladung nach Burgwedel bei Hannover begnügen soll.

Wieder gut machen könne niemand, was ihm 1955 widerfahren ist. Seine Mutter duldet nur alle 14 Tage Besuche ihres Kindes. Dennoch macht sich Jörg W. eines Tages früher als gewünscht auf den Weg, wird von seiner Mutter zurück ins Heim geschickt, kommt zu später Stunde dort an und muss sich eine Standpauke der Betreuerin gefallen lassen. Dann wechselt sie das Thema, erzählt, wie schwer sie es hat, schließlich zeigt sie dem 12-Jährigen ihre Blinddarmnarbe: "Fass doch mal an!"

Der Junge will nicht. Bricht in Tränen aus. Wird ins Bett geschickt. Bekommt am nächsten Tag ein Einzelzimmer. Begründung: "Du onanierst." Deshalb müsse er beobachtet werden. Von den anderen Kindern.

Auf dem Bauch liegend wird Jörg W. ans Bett gefesselt. Morgens bekommt er kalte Duschen von seinen Altersgenossen, die ihn anschließend bis zur Toilette begleiten. Die Tür schließen darf der Junge nicht. Jörg W. pinkelt deswegen in eine Büchse. Schüttet den Inhalt aus dem Fenster seines Einzelzimmers.

Auf dem Schulweg wird der 12-Jährige gehänselt. Er muss die andere Straßenseite benutzen. Die anderen Heimkinder rufen über die Straße: "Fummellauke." Auch im  Gymnasium nennen sie ihn so. Über einen Monat lang. Bis sich Jörg W. an seinen Klassenlehrer wendet. Der informiert die Heimleitung und die Mutter des Jungen. Der 12-Jährige darf wieder nach Hause.

Das Gymnasium in Burgwedel besucht er noch ein halbes Jahr lang. Seine Noten werden immer schlechter. Jörg W. wird aus diesem Grund von der Schule genommen, macht eine Tischlerlehre und geht zur Bundeswehr. Nach bestandener Fernsehtechnikergesellenprüfung und erfolgreichem Besuch der Technikerschule fängt er bei der Stadt Hannover als Betriebsinspektor an.

Doch die Angst lässt Jörg W. nicht los. 1986 wird er Frührentner. "Ich habe mein Leben und meine Arbeit immer nur mit großer Mühe bewältigt", sagt der 67-Jährige heute.

Ehemaliges Heimkind bietet Hilfe an

5. Januar 2014. Heute hat mich ein ehemaliges Heimkind angerufen, das inzwischen in Regensburg wohnt. Die Schilderungen von Jörg W. stimmen, sagt der Anrufer und bietet - falls erforderlich - Hilfe an.

Die Pestalozzi-Stiftung