Donnerstag, 18. Februar 2010

Das Schicksal der Sylvia K.

30. Januar 2010
"Sozialisiert wie ein südeuropäischer Straßenköter, der um Gnade bittet"

„Mal verdiente ich gut, mal krebste ich herum“, beschreibt Sylvia K. (Name geändert) ihr bisheriges Leben, Stadtplanerin sei sie gewesen, TV-Autorin, sie habe die Welt gesehen und immer eins gefürchtet: den Verlust ihrer Freiheit. Denn: Sozialisiert worden sei sie wie „ein südeuropäischer Straßenköter - ohne die Hunde herunterputzen zu wollen“ in einem Kinderheim in Nordhessen. Welche Folgen diese Heimerziehung habe, das wolle sie erzählen. Sylvia K. lebt im Ausland, nach Deutschland zurückkehren will sie nicht.

Der Bundestag hat einen Runden Tisch eingerichtet, an dem das Schicksal von Heimkindern in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren aufgearbeitet werden soll. Wie haben Sie von diesem Runden Tisch erfahren?

Sylvia K.: Kürzlich habe ich im Radio auf WDR 5 eine Sendung gehört. Berichtet wurde, dass die Gewalt gegen Heimkinder thematisiert wird. Auch mein Bruder und ich wurden Opfer ausufernder Gewalt. Obwohl aus Bremerhaven, brachte man uns ins entfernte Nordhessen. In den folgenden Jahren sahen wir unsere Eltern nur noch einmal im Jahr, und zwar abwechselnd unseren Vater und unsere Mutter. Der Ort hieß Vöhl, es war ein Kinderheim der AWO.

Wie andere Heimkinder auch, haben Ihr Bruder und Sie Gewalt erlebt?

Sylvia K.: Der damalige Heimleiter war ein Bilderbuch-Nazi. Er zertrat meinen am Boden liegenden Bruder vor meinen Augen. Er hat sich davon nie erholt. Ich habe die Bilder aus diesem Heim, in dem ich vom 5. bis zum 10. Lebensjahr war, noch heute vor Augen. Doch auf die grauenhaften Geschehnisse und meine persönlichen Erlebnisse möchte ich nicht eingehen.

Worüber möchten Sie denn sprechen?

Sylvia K.: Über die Nachwirkungen. Zum einen, das weiß ich heute, hat das Selbstwertgefühl gelitten - bis hin zu Selbstmordgedanken. Man hat uns sozialisiert wie einen südeuropäischen Straßenköter, der in der Rangordnung ganz unten stehend nur noch um Gnade winselt, damit er nicht geschlagen wird. Eins habe ich immer gefürchtet: den Verlust meiner Freiheit und abhängig zu werden von anderen Menschen. Ich war gebrandmarkt. Egal, was ich tat oder wo ich war, ich blieb das Heimkind, das sich schämt, weil es nicht wie die anderen war.

Aus Ihrem Lebenslauf weiß ich aber, dass Sie Abitur gemacht und studiert haben.

Sylvia K.: Stimmt. Das habe ich meiner kämpferischen Mutter zu verdanken und meinem Vorsatz, dass ich nie wieder etwas mit sozialem Elend zu tun haben will. Ich habe Geologie und Geografie studiert. Ich lernte fliegen, war Stadtplanerin, lernte als TV-Autorin die Welt kennen, mal verdiente ich gut, mal krebste ich rum.

Folge 2

Das Schicksal der Sylvia K. II

9. Februar 2010
Dann ist der Sohn weg

„Mal verdiente ich gut, mal krebste ich herum“, beschreibt Sylvia K. (Name geändert) ihr bisheriges Leben, Stadtplanerin sei sie gewesen, TV-Autorin, sie habe die Welt gesehen und immer eins gefürchtet: den Verlust ihrer Freiheit. Denn: Sozialisiert worden sei sie wie „ein südeuropäischer Straßenköter - ohne die Hunde herunterputzen zu wollen“ in einem Kinderheim in Nordhessen. Welche Folgen diese Heimerziehung habe, das wolle sie erzählen. Die 53-Jährige lebt im Ausland, nach Deutschland zurückkehren will sie nicht. Ihr Sohn ist 13.

Sie haben einen Sohn und sind alleinerziehend?

Sylvia K.: Ja. Dass ich alleinerziehend bin, wäre auch nicht weiter dramatisch gewesen, wenn mein Sohn nicht schon sehr früh an einer schweren Neurodermitis erkrankt wäre, der später noch Asthma bronchiale folgte, obwohl wir so lebten wie es gesund sein soll: ländlich. Wir hatten zwei Pferde und einen großen Hund, zwei Hektar Weideland, einen Wald, einen Fluss, Nachbarskinder. Es war die Idylle schlechthin. Doch an Schlaf war in der Nacht bei der Krankheit meines Sohnes nicht zu denken. Ich konnte bald nicht mehr nebenbei arbeiten und der Vater meines heute 13-jährigen Sohnes wollte uns nicht unterstützen. Den  Gang zum Sozialamt scheute ich aus bekannten Gründen. Wir schlugen uns durch, bis der Bauernhof verkauft werden sollte.

Irgendwie fehlt jetzt das Jugendamt, das immer irgendwann auftaucht, wenn ein Problem gewittert wird.

Sylvia K.: Sie scheinen sich da auszukennen. Nach einer Klimakur, bei der mein Sohn völlig gesund wurde, wohnten wir vorübergehend in dem Haus eines Studienfreundes. Der war als Pilot viel unterwegs. Eines Tages stand eine gräßliche Frau vom Jugendamt vor der Tür und erklärte mich in 20 Minuten für erziehungsfähig. Der Vater meines Sohnes hatte inzwischen geheiratet und seine Frau suchte ein Pflegekind. Was lag da näher als meinen Sohn ins Auge zu fassen?

Wann war das?

Sylvia K.: An einem schönen Augusttag des Jahres 2002. Was nun geschah, spiegelte die ganzen Schikanen aus meiner Zeit als Heimkind wider. Und ich stellte fest, dass die Menschenverachtung und Herabsetzung durch gewisse Sozialarbeiter sich nicht geändert hatte. Allerdings will ich nicht in Abrede stellen, dass es auch andere gibt.


Was geschah mit Ihrem Sohn? Wurde er Ihnen weggenommen?

Sylvia K.: Mein Sohn wurde von den um das Kindeswohl Bemühten heruntergeputzt. Man schilderte ihn als verhaltensgestört. Und das drohte er auch zu werden. Denn er verstand nicht, warum er nicht mehr bei mir leben durfte.

Fast zwei Jahre focht ich einen aussichtslosen Kampf. Längst hatte ich alle Rechte an meinem Sohn verloren, das Umgangsrecht war ein stundenweises Besuchsrecht unter Aufsicht geworden. Das Gutachten im Rahmen eines absurden Sorgerechtsstreits war ein reines Gefälligkeitsgutachten, die Willkür fiel sogar Laien auf. Es kam dann sogar zu einem Ermittlungsverfahren gegen die Gutachterin. Doch es verlief im Sande.

Folge 3

Das Schicksal der Sylvia K. (III)

18. Februar 2010
"Kinderheim-Geruch haftet an mir"

„Mal verdiente ich gut, mal krebste ich herum“, beschreibt Sylvia K. (Name geändert) ihr bisheriges Leben, Stadtplanerin sei sie gewesen, TV-Autorin, sie habe die Welt gesehen und immer eins gefürchtet: den Verlust ihrer Freiheit. Denn: Sozialisiert worden sei sie wie „ein südeuropäischer Straßenköter - ohne die Hunde herunterputzen zu wollen“ in einem Kinderheim in Nordhessen. Welche Folgen diese Heimerziehung habe, das wolle sie erzählen. Die 53-Jährige lebt im Ausland, nach Deutschland zurückkehren will sie nicht. Ihr Sohn ist 13.


Heute lebt Ihr Sohn bei Ihnen. Haben Sie das Sorgerecht wieder bekommen?
 
Sylvia K.: Nein. Ich habe schon bald geahnt, dass uns nur noch die Flucht blieb. Denn der Vater hatte längst den Spaß an einem Kind verloren. Nach den Jahren des Alleinerziehens und nach dem Rechtsstreit war ich pleite. Also klaute ich am 2. Oktober 2004 meinen Sohn und floh mit ihm ins entfernte Portugal.
 
Dort sind Sie aber nicht lange mit Ihrem Sohn geblieben?
 
Sylvia K.: Seit Sommer 2005 leben wir der Sprache wegen in einer deutschsprachigen Gemeinschaft eines Nachbarlandes von Deutschland. Mein Sohn kann hier zur Schule gehen. Die jahrelange Angst im Nacken, entdeckt zu werden, immer ausgebeutet zu sein, immer in der Ungewissheit zu leben, wovon ich die Miete bezahlen soll, hat mich ziemlich mürbe gemacht. Jetzt, während ich meine Geschichte in Kurzform erzähle, mich dabei zurück erinnere, kommen erneut Wut und Verzweiflung gleichermaßen in mir hoch. 
 
Müssen Sie immer noch Angst haben?
 
Sylvia K.: Seit ein paar Wochen weiß ich, dass wir nicht mehr gesucht werden. Nach langem Bitten zog der Vater seine Anzeige zurück. Doch ich musste ihm zusichern, dass ich keine finanziellen Ansprüche stelle. Er hat nach wie vor das alleinige Sorgerecht, ist aber damit einverstanden, dass unser Sohn bei mir lebt.
 
Dennoch ist eine Rückkehr nach Deutschland ausgeschlossen?
 
Sylvia K.: Wir können nicht nach Deutschland zurück, weil dann die Behörden meinen Sohn ergreifen würden, da der Vater wieder geschieden ist. Mein Sohn will auch nicht zu ihm. Er würde dann vermutlich wie einst geplant fremd untergebracht werden. Für einen neuen langwierigen Rechtsstreit habe ich aktuell weder die Nerven noch das Geld. Vor allem aber will ich das meinem Sohn nicht zumuten. Er soll nicht mein Trauma bekommen. Darüber hinaus möchte ich auch nicht nach Deutschland zurück.
 
Meine Geschichte, meine Erlebnisse mit den Sorgerechtsbehörden haben mir auf erschreckende Weise gezeigt, welch abscheuliche Willkür und Menschenverachtung noch immer hinter den Kulissen herrschen. Ich könnte jetzt ein paar O-Töne zum Besten geben. Unser Fall hatte bisweilen kafkaeske Züge.
 
Mein Lebtag hatte ich das Gefühl, der Geruch des Kinderheimes haftet immer noch an mir.